Während meiner Vorbereitungen zur Konversationsprüfung im Deutschkurs stieß ich auf die Frage «Was sind deine Hobbys?» Ich legte mir eine Antwort zurecht, lernte sie auswendig und bereitete mich darüber hinaus auf alle möglichen weiteren Hobbyfragen vor. Der Prüfungstag fiel allerdings auch mit dem letzten Kurstag an der Schule zusammen, und Letzteres wurde gefeiert. Ich verpflichtete mich dazu, Süßgebäck zuzubereiten, um es auf die Feier mitzubringen, die noch vor der Prüfung stattfand. Offenbar stieg mir das Lob der Versammelten bezüglich meiner Backkünste etwas zu Kopf, ich änderte jedenfalls meine Pläne: Ich dachte, warum sollte ich nicht Backen zur Liste meiner Hobbys hinzufügen?
Gedacht, getan – ich nannte, als die Frage gestellt wurde, Backen als eines meiner Hobbys, und die Dozentin fragte zurück: «Haben Sie auch einmal deutsche Backrezepte ausprobiert?» Einfach mit Nein zu antworten schien mir nicht ausreichend, um den Test zu bestehen, zugleich war mein Deutsch aber auch nicht so ausgereift, dass es diplomatisch bestehen konnte. Nicht einmal der Frage auszuweichen, war ich in der Lage, und so entschied ich mich für die erstbeste grammatisch korrekte Antwort, die mir in den Sinn kam: dass arabische Rezepte ja wohl lecker genug seien und ich deshalb keine Veranlassung sehe, auf deutsche zurückzugreifen. Meine Lehrerin war sichtlich bestürzt über meine Antwort. Noch heftiger fielen die Reaktionen meiner Mitlernenden aus, die sagten: «Was hast du dir dabei gedacht, die Deutschen so zu beleidigen?» Ich hatte aber nichts falsch gemacht. Sprache kann trügerisch sein, sie lässt ganz besonders jemanden wie mich, die in einem neuen Land eine neue Sprache lernt, schnell mal im Stich.
Am Nachmittag desselben Tages fuhr ich in Begleitung meiner Familie mit der U-Bahn nach Hause, und wir wurden Zeuge eines Streits eines jungen Paars, im Verlaufe dessen Schimpfworte im breitesten syrischen Dialekt fielen. Aus Neugier und Mitgefühl versuchte ich zu verstehen, worum es ging, konnte aber den Grund der Auseinandersetzung nicht nachvollziehen. Mir fiel nur auf, dass die junge Frau ihrem Begleiter, der seinerseits versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, immer wieder sagte: «Was sollen die Deutschen von uns denken? Leute wie du bringen uns hier in Deutschland in Verruf!»
Zwei Ereignisse am selben Tag, beide kreisten darum, dass wir in verschiedenen Welten leben: Hier die Deutschen, und dort wir. Darum, dass Sprache und falsches Sprechen zu Missverständnissen führen können. Und darum, was die Deutschen von «uns» erwarten – beziehungsweise was wir annehmen, dass sie es von uns erwarten.
Ich entsann mich einer Vielzahl von ähnlichen Äußerungen anderer Flüchtlinge, die in ähnlichen Situationen Sorge darüber äußerten, welches Bild sie wohl bei den Deutschen abgeben. Eine Freundin von mir versucht sich in ihrem Wohnhaus immer besonders vorbildlich zu verhalten, auch sie begründet dies immer mit den Deutschen: «Die Deutschen mögen keinen Lärm, und meine Familie und ich möchten sie nicht stören.» Desgleichen eine Verwandte: Sie ist stolz darauf, mit Deutschen befreundet zu sein, sie riet mir einmal, mich nicht nur mit Arabern zu umgeben, denn das sei kein Beweis für eine gelungene Integration in unserer neuen Gesellschaft.
Nicht zu vergessen der verbreitete Drang, Erfolgsgeschichten von Geflüchteten vorzuweisen, die möglichst über die Presse den Weg in die Öffentlichkeit finden sollen. Bei alldem aber stellt sich auch die Frage danach, wer «wir» eigentlich sind und wie wir zu sein haben. Nach welchem Maßstab wird das Verhalten eines Flüchtlings beurteilt? Kann es den Ruf von schon länger in Deutschland ansässigen Arabern beschädigen? Ich fand den ganzen Tag keine klare Antwort darauf. Viele Syrer denken oft tagelang darüber nach, wie sie es den Deutschen recht machen können, und es kommt dann meist doch anders, als sie dachten. Aber sie möchten nur zu gern Protagonisten von Erfolgsgeschichten sein und träumen davon, damit auf die Titelseiten deutscher Medien zu kommen und damit den Beweis anzutreten, dass die flüchtlingsfreundliche Politik Deutschland nicht vergebens war.
Am Abend dann hängen dieselben Geflüchteten wieder an ihren facebookblauen Bildschirmen und tauschen die Sorgen des Tages gegen die Sorgen des Abends ein: Jetzt widmen sie sich wieder ihren Schuldgefühlen, weil sie sich in Sicherheit gebracht haben, ohne die vielen anderen, die in Syrien geblieben sind, retten zu können. Blau ist das Exil am Abend, wenn es nicht gerade in den Farben anderer Apps schimmert, über die aus der Heimat berichtet wird. In langen Telefonaten lassen sie sich über alle Details des Alltags in der fernen Heimat berichten. Viele möchten dadurch der Leichtigkeit ihres Seins im Exil entgehen, wieder das Gewicht spüren, das sie verloren haben, als sie ihre Vergangenheit hinter sich ließen. Sie würden gern an ihr vorheriges Leben anknüpfen.
Ich muss auch von meinem Nachbarn berichten, der ein Stockwerk über mir wohnt. Er hat jeweils die Hälfte seines Lebens, über zwanzig Jahre, im Irak und in Deutschland verbracht. Sein eigentliches Leben beginnt immer erst nach 20:00 Uhr. Wenn das Fenster offen ist, höre ich ihn mit seiner Familie im Irak telefonieren. Er diskutiert mit ihnen jedes Detail, beginnend mit der Frage, was sie heute zu Mittag gegessen hätten, bis hin zu seiner Meinung zu diesem oder jenen Mann, der seine jüngere Schwester heiraten will. Ich male mir aus, wie er im Irak gelebt hat, dass er offenbar der älteste Bruder in der Familie ist und alle ihn immer um Rat gefragt haben. Ich stelle mir vor, wie seine Mutter nach jedem Gespräch vor seinen jüngeren Geschwistern rechtfertigt, dass der Ältere, den sie kaum noch kennen, ihnen Vorschriften machen will: «Euer Bruder ist im Ausland, er hat Lebenserfahrung, also hört auf seine Meinung!»
Mein Nachbar, so fantasiere ich, führt von Berlin aus seine Großer-Bruder-Rolle weiter, zu der gehört, dass er jeden Abend pünktlich um acht zu Hause anruft und Entscheidungen trifft. Wer weiß, vielleicht schafft es ihm auch das Gewicht, das ihm hier fehlt?
Aber nicht nur ihm geht es so. Alle Geflüchteten kennen dieses Gefühl. Abends führt man in der Familie das Wort, am nächsten Morgen läuft man durch Straßen, in denen man niemanden kennt, niemand fragt einen nach der Meinung, niemand hat auch nur die Zeit, sich in schlechtem Deutsch etwas anzuhören, dessen Inhalt sich ohnehin meist nicht erschließt, bis man schließlich auch selbst keine Lust mehr hat, etwas zu sagen, nur um gebeten zu werden, es doch bitte noch einmal, aber diesmal verständlich, zu wiederholen. Also schweigen die meisten Flüchtlinge und lächeln lieber ausdruckslos, als beim Sprechen nicht verstanden zu werden.
Ein Freund berichtete mir von einem ähnlichen Fall wie dem mit meinem irakischen Nachbarn. Er allerdings drohte seinem Nachbarn mit der Polizei, sollte er künftig nicht leiser mit seinen Angehörigen in Syrien telefonieren. In den 1990er-Jahren musste man in Syrien noch von der Zentrale aus telefonieren, wenn jemand einen Festnetzanschluss zuhause hatte, galt das als Zeichen von Wohlstand. Man machte Witze darüber, dass die Lautstärke des Anrufenden Aufschluss darüber gebe, wohin das Telefonat ging: War es ein Inlandsgespräch, wurde leise gesprochen, aber je weiter ins Ausland der Anruf ging, desto lauter musste man in den Hörer brüllen. Jedenfalls ging mein Bekannter zu seinem Nachbarn und untersagte ihm Telefonate nach 22:00 Uhr. Schließlich kamen sie überein, dass der Anrufer zum Telefonieren in ein abgelegenes Zimmer wechseln würde. Verzichten konnte er nicht, denn tagsüber beschränkte sich sein Wortschatz meist auf ja und nein.
Solche Geschichten verweisen darauf, dass Exilanten unabhängig von der Herkunft viele Erfahrungen teilen. Ich habe versucht herauszufinden, ob die Syrer nicht doch irgendwelche Besonderheiten hätten, aber bei all meinen Beobachtungen stieß ich auf das immer Gleiche Hannah Arendt berichtete in «Wir Flüchtlinge» von den immer gleichen Tagen in der Fremde, an denen man sich so verhält, wie es erwartet wird, ohne «in Verruf» zu geraten, wie die junge Frau in der U-Bahn ihrem Begleiter vorgehalten hatte. Abends wie morgens fühlen wir uns gleichermaßen ohnmächtig, für uns ist die Zeit stehengeblieben.
Für die Syrer ist das seit 2011 der Fall, das war der historische Moment, in dem sie alleingelassen wurden. Wenn Syrer von früher sprechen, bleiben sie meist im Jahr 2011 stehen, es kommt ihnen oft erst nach ein paar Momenten in den Sinn, dass seitdem zehn Jahre vergangen sind. Das ist vermutlich das Einzige, was uns von anderen unterscheidet.
Bezüglich der Abende vor dem blauen Bildschirm, der stehengebliebenen Zeit und der zähen Fortschritte im neuen Leben spricht niemand mehr von Ambitionen, Erwartungen und vom verlorenen alten Leben. Alle sind eine Insel und brauchen Zeit, um sich in ihrer neuen Realität zurechtzufinden.
In der Schule versuchte unsere Religionslehrerin immer, uns zu erklären, was es mit dem «Barzach», dem Zustand zwischen Leben und Tod, auf sich hat. Sie vermochte kaum, das in unsere kleinen Köpfe zu bringen. Auch ich hatte Schwierigkeiten, es zu verstehen, und habe mir später immer Filme und Serien angesehen, die von diesem Schwebezustand zwischen Leben und Tod handeln, in dem die Seele nicht zur Ruhe kommt. Jetzt, im Vergleich mit dem Zustand der geflüchteten Syrer, verstehe ich es besser. Wir stecken in der Vergangenheit fest, kommen in der Realität nicht an – und hängen irgendwo dazwischen. Und weil das nicht einmal ein halbes Leben ist, retten wir uns in Erinnerungen, um unserer umherschwebenden Seele wenigstens ein wenig Ruhe zu verschaffen. Was soll «Integration» in einem solchen Zustand sein?
→ Nibal Alalu ist Berliner Autorin.
Illustration: → Joaquina Garotte Gasch
Dieser Text ist zuerst erschienen im Magazin → Female Voices in Exile (Nr. 5, Juni 2021) von → Women for Common Spaces e.V. Dort findet sich auch die arabische Version des Textes: → في خصوصية حكاية اللجوء السورية. Der Wiederabdruck mit kleinen redaktionellen Veränderungen erfolgt mit Genehmigung der Autorin und von Women for Common Spaces.